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Optische Illusionen

Sie vermuten, dass beide Bretter denselben Inhalt haben? Kompliment, da liegen Sie richtig. Ihr Augenmaß ist hervorragend. Wie würden Sie andere davon überzeugen? Am besten handlungsorientiert: Wenn Sie das Bild ausdrucken, können Sie eines der Bretter ausschneiden und auf das andere legen. Was soll das bringen, fragen Sie? Lang und schmal, kurz und breit – zwei Bretter mit so unterschiedlicher Form kann man doch nicht zur Deckung bringen. Nun, vielleicht geht das doch.

Sitzen Sie vor einem Desktop-Computer oder Laptop? Dann bewegen Sie die Maus doch einmal auf das Bild. Bei Tablet oder Smartphone tippen Sie einfach auf das Bild; um wieder auf das ursprüngliche Bild umzuschalten, tippen Sie in den weißen Leerraum darüber oder darunter. (Das können Sie mit allen Abbildungen auf dieser Seite so machen). – Wir wechseln auf dieser Seite die Leitfarbe, um zu signalisieren, dass hier nicht Mathematik die Hintergrundwissenschaft ist, sondern Psychologie, Kognitionswissenschaft und Hirnforschung.



Die beiden Bretter haben nicht nur denselben Flächeninhalt, sie sind sogar kongruent, völlig identisch in Form und Größe. Kaum zu glauben, aber wahr. Wie können sich unsere Augen so täuschen? Nun, die Evolution hat unser Gehirn für das räumliche, dreidimensionale Sehen optimiert. Wir müssen uns in unserem Lebensraum orientieren können, nicht in den zwei Dimensionen von Bildern. Jedenfalls war das so während fast des gesamten Zeitraums unserer Evolution. Bilder begannen in den rund 15 Millionen Jahren unserer Entwicklungsgeschichte erst auf den letzten Metern eine Rolle zu spielen. Daher versucht das Gehirn, auch zweidimensionalen optischen Input stets räumlich zu interpretieren: Flächiges wird perspektivisch als Räumliches wahrgenommen. Das ist kein Mangel unseres visuellen Systems, sondern ganz im Gegenteil eine seiner Stärken.

Diese eindrucksvolle Illusion mit den Brettern hat Roger N. Shepard entdeckt, Kognitionswissenschaftler an den Universitäten von Yale und Stanford und Begründer der wahrnehmungspsychologischen Analyse von Raumvorstellungen. Sie ist als Turning Tables Illusion bekannt geworden. Auf den meisten Abbildungen werden unsere »Bretter« nämlich zumeist als »Tischplatten« dargestellt, wie auch schon in Shepards erster Veröffentlichung. Mitunter wird die Illusion darum so erklärt, dass durch die bildliche Platzierung zweier schräg zueinander stehenden Tische die Suggestion der Räumlichkeit ausgelöst und zu einer perspektivischen Interpretation des Bildes animiert werde. Wie wir an unserer Darstellung aber erkennen können, geht diese Erklärung fehl: Tischbeine sind völlig überflüssig, nicht sie bewirken den Effekt, sondern allein die Anordnung der Vierecke, die beim Betrachten in uns eine Drehungsvorstellung des einen auf das andere aktiviert. Diese Drehungsvorstellung löst unmittelbar eine unbewusste perspektivische Wahrnehmung in uns aus. Shepard hat erkannt, dass solche automatischen Vorstellungen von Drehungen bei unserer Interpretation von Bildern oft eine bedeutende Rolle spielen.

Die meisten von uns werden in unserer Abbildung Rechtecke sehen, was durch die Bezeichnung »Brett« ja auch suggeriert wird. Aber selbst, wenn wir strikt geometrisch denken und ohne jede konkretisierende Vorstellung die Abbildung betrachten, wenn wir also die beiden Figuren rein flächig und als Parallelogramme wahrnehmen, verliert die Illusion nichts von ihrer Kraft. Den Beweis dafür, dass die grafische Andeutung von Dreidimensionalität in der Abbildung keine Rolle spielt, haben Sie selbst erlebt: Die gelbe Vergleichsfigur in unserer Animation ist nur flächig, und dennoch haben wir den starken und unabwendbaren Eindruck, dass sich beim Drehen ihre Form verändert, was aber keineswegs der Fall ist. Dieser Dreheffekt ist der eigentliche Kern der Illusion. – Shepards Turning Tables haben dazu geführt, dass die Phänomene des »Drehens im Kopf« (mental rotations) in der Kognitionswissenschaft heute eine prominente Rolle spielen.

Shepard hat übrigens auch eine spannende Entdeckung auf dem Gebiet der Psychoakustik gemacht: Die akustische Illusion der Shepard-Skala (1964), einer Tonleiter aus überlagerten Sinustönen, die den Eindruck von unaufhörlich steigenden oder unaufhörlich fallenden Tönen macht, ohne doch jemals an die Grenzen unseres Hörbereichs zu stoßen. Am eindrucksvollsten ist der Effekt, wenn er nicht als Folge einzelner Töne, sondern als Glissando angelegt ist, mit kontinuierlich gleitender Änderung der Tonhöhe. Also nicht als »Treppe«, sondern als »Rutsche« aus Tönen. Allerdings: Wenn man genau hinhört, nimmt man ein nur periodisch abfallendes Klanggeschehen wahr, in dem doch immer wieder Stimmen von oben einsetzen. Sie können hier ein Beispiel hören, probieren Sie selbst aus, was Ihr inneres Ohr daraus macht: Shepard-Risset-Glissando.

Warum man in der Geometrie beweisen muss

Optische Illusionen wie die der Turning Tables sind auch aus mathematikdidaktischer Perspektive bedeutsam. Unter dem Aspekt der Mathematik als »Kunst des Sehens« sollten sie im Mathematikunterricht einen festen Platz haben. Zum einen bieten sie Einblicke in die Natur der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten und regen zur Reflexion zum Beispiel des mathematischen Wahrheitsbegriffs an, indem sie zumindest vorübergehend den Blick von den mathematischen Objekten auf das mathematisch denkende Subjekt lenken. Ein Blickwechsel, dessen Erkenntniswert von den meisten Mathematik Treibenden und Lehrenden ignorant missachtet wird.

Andererseits können optische Illusionen Erfahrungen vermitteln, die unmittelbare Motivationsrelevanz haben. So zum Beispiel im Rahmen einer »Konfrontationstherapie«, um Verächtern geometrischer Beweise die Grenzen ihrer Wahrnehmung vor Augen zu führen: Illusion als Werkzeug der Desillusionierung. Der Standard-Einwand »Das sieht man doch, wozu also noch beweisen?« wird danach seltener und mit deutlich reduzierter Empörung vorgebracht.

Ein ebenfalls bewährtes Therapeutikum, wenn auch nicht so spektakulär wie das erste, ist die folgende Höhentäuschung. Auch bei ihr ist perspektivische (Fehl-)Interpretation im Spiel. So sehr wir uns auch um eine andere Sicht bemühen mögen: Wir sehen den weißen Punkt im Dreieck oberhalb der halben Höhe, nicht viel, aber doch deutlich erkennbar höher. Irrtum, er sitzt exakt im Höhenmittelpunkt. Aktivieren Sie die Animation:

Während der Animation erkennen wir unseren Irrtum durchaus. Danach aber ist alles wieder wie zuvor, der Punkt sitzt wieder höher. Unser Gehirn ist unbeirrbar und unbelehrbar, die Evolution ist stärker als die Mathematik. Diese Eigenschaft ist allen optischen Illusionen gemeinsam: Sie nutzen sich nicht ab. Auch wenn wir uns noch so oft vom wahren Sachverhalt überzeugen, verlieren sie nichts von ihrer Kraft. Die Demonstrationen haben keinen Trainingseffekt auf unser Sehen. Bestenfalls auf unsere metakognitive Reflexion über das Sehen.

Dass wir auch von der Parallelität in geometrischen Mustern mitunter nur durch Beweis überzeugt werden können, weil wir statt ihrer nur Schiefe und Wölbung wahrnehmen – dafür sind die drei folgenden Bilder überzeugende Beispiele.



Der »evolutionäre Benefit« optischer Illusionen

Welche der beiden reifen (roten) Früchte im folgenden Bild ist die größere? Die meisten von uns werden sich für die linke entscheiden. Prüfen Sie, ob das stimmt, aktivieren Sie die Animation:

Wie steht es denn nun hier mit der angeblichen evolutionären Optimierung des Gehirns? Anders als bei einem Punkt im Dreieck kann man hier ja wirklich an eine reale Situation denken. Doch welchen Vorteil sollte die Evolution uns mit dieser Fehleinschätzung vermittelt haben? Evolutionspsychologisches Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit Ihrer Gruppe hungrig von der Mammutjagd zurück. Nach welcher Frucht am Baum würden Sie zuerst greifen? – Aber das ist ja gerade der Punkt, könnten Sie einwenden. Bei gleich großen Früchten hat man doch keinen Vorteil, wenn man die eine statt der anderen pflückt.

In der Tat: Wenn es darum ginge, von welchem der beiden Bäume ich die rote Frucht pflücken sollte, wäre das völlig egal. In der Realität wird es aber wohl kaum um die Frage gehen, von welchem Baum ich pflücken soll. Da stehe ich nicht vor zwei Bäumen, sondern vor einem und muss unter seinen Früchten die größte erkennen. Und zwar möglichst schnell, damit mir keiner meiner lieben Begleiter gerade die wegschnappt.

Die Farben sind hier nicht wesentlich, sie sollen vor allem zum Vergleich der beiden inneren Früchte animieren. Wahrnehmungspsychologisch geht es nur um die Größe der Früchte: Im linken Baum ist die mittlere Frucht größer als die äußeren. Unser Gehirn übertreibt nun diesen Unterschied, verzerrt also die Wirklichkeit, hilft aber gerade dadurch unserer Entscheidungsfindung sehr effizient auf die Sprünge. Beim rechten Baum sind die Größenverhältnisse zwar umgekehrt, aber die Strategie des Gehirns ist dieselbe: Die kleinere Frucht in der Mitte erscheint gegen die großen Früchte am Rand noch mikriger als sie ohnehin schon ist. Auch hier beschleunigt das Gehirn unsere Erkenntnis. Diesmal lautet sie: Die Frucht in der Mitte auf keinen Fall!

Werden beide Fälle in ein gemeinsames Bild integriert, wie in unserer Abbildung oben, so bewirkt die Übetreibungsstrategie, die links den roten Kreis vergrößert, während sie ihn rechts verkleinert, die optische Illusion verschieden großer Kreise. Das funktioniert nur, weil wir den Vergleich zwischen den beiden roten Kreisen nicht auf einen Blick vornehmen können, sondern einen mehrmaligen Blickwechsel zwischen rechts und links ausführen müssen. Wir können nur jeweils einen roten Kreis fixieren und sehen dann automatisch dessen grünen Kontext mit, so dass auf jeder Seite der Übertreibungseffekt separat arbeitet. Die entgegengesetzten Richtungen des Effekts führen dann zur Fehlwahrnehmung.

Sehen als Prozess der Sinnkonstruktion durch Komplexitätsreduktion und Strukturierung

Betrachten Sie das Bild mit dem verkleinerten Schachbrett unten. Die Farbgebung ist angenehm für die Augen und immer noch deutlich genug, um die dunklen und hellen Felder gut unterscheiden zu können. Die Diagonalen treten klar hervor, auch Feld B ist hell genug, obwohl es hier sogar im Schatten liegt. Nichts aufdringlich, alles sofort erkennbar, gutes Design. Sehen Sie ruhig kritisch hin: Gibt es ein Feld, bei dem Sie nicht auf Anhieb erkennen, ob es zu den hellen oder den dunklen gehört? Auch der Kontrast zwischen den Feldern A und B ist stark genug: Wir sehen sofort, dass A zu den dunklen und B zu den hellen Feldern gehört. Dann kann das Spiel also beginnen. Aktivieren Sie die Animation:

Auf Ehre und Gewissen: Unsere Animation lässt die Farben des Schachbretts völlig unverändert. Nur die gelbe Abdeckung ist hinzugefügt worden. (Sie können das überprüfen, indem Sie die Datei herunterladen und zum Beispiel in Photoshop öffnen.) Die Entdeckung, dass beide Felder A und B exakt dieselbe Farbe haben, wirkt auf die meisten von uns wie ein mittlerer Schock. Bei keiner anderen optischen Illusion ist der Verblüffungseffekt derart gewaltig wie bei dieser hier. Sie wurde 1995 von Edward H. Adelson, Professor für Vision Science am MIT, veröffentlicht und wird Checker Shadow Illusion genannt. Statt der wörtlichen Übersetzung »Karomuster-Schattenillusion« (oder »Damebrett-Schattenillusion«) ist im Deutschen die Bezeichnung Schachbrett-Illusion üblich.

Dieselbe Farbe wie A und B hat auch das helle Feld links unterhalb von B, ebenso wie das rechte dunkle Feld in der ersten Reihe vorn und das dunkle Feld links unterhalb von A. (Stets liefert die Farbpipette von Photoshop exakt denselben Wert #797979.) Das lässt sich auch ohne Animation sehen, wenn man die Felder über Farb-Brücken miteinander verbindet, wie in der Abbildung links (bitte aktivieren).

Adelsons Illusion bleibt aber auch dabei am Werk: Obwohl tatsächlich vier Brücken einer konstanten Farbe hinzugefügt wurden, erscheinen sie so, als seien sie mit Hilfe eines geschickten Farbverlaufs trügerisch angepasst worden. Das ist jedoch wirklich nicht der Fall.

So frappierend Adelsons Illusion auch ist, sie bringt doch nur geschickt auf den Punkt, wie Sehen generell funktioniert, und hilft uns so zu metakognitiver Einsicht. Tatsächlich abgebildet sind hier Schachfelder in vielen unterschiedlichen Grautönen. Was wir wahrnehmen (für wahr nehmen) sind dagegen Felder von nur zwei Sorten, helle und dunkle. Die Vielfalt wird eingedampft auf das für uns Wesentliche. Der grüne Zylinder steht nur da, um den Schatten auf dem Brett zu erklären. Auch wenn Sie den Zylinder verdecken, bleibt die Illusion. Sogar dann, wenn Sie den Bildausschnitt noch weiter verkleinern, so dass der Ausschnitt nur noch Teile der Felder A und B enthält. Es ist kein Zufall, dass Adelson das Bild eines Schachbretts verwendet, eines Gegenstands von hohem Wiedererkennungswert und mit einer grafischen Struktur, die zum inneren Bildrepertoire sehr vieler Menschen gehört. Ein Gehirn, das dieses Muster kennt, weiß sofort, was an der Abbildung das Wesentliche ist, welche Bildinformationen also ausgeblendet werden können: nämlich alles, was nicht zum Farb- und Formschema »Schachbrett« gehört.

Ohne diese Fähigkeit zum Eindampfen auf das Wesentliche könnten wir nicht Schach spielen. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen vor dem Schachbrett. Egal, ob die Sonne scheint oder Lampen leuchten: Es gibt bei weitem nicht nur zwei Farben auf dem Brett – zwischen »schwarz« und »weiß« erzeugt jede Lichtquelle immer Farbverläufe mit vielen Zwischentönen, ein komplexes Spiel von Licht und Schatten. Diese Farbwechsel, die sich durch Wolken oder vorbeigehende Zuschauer dazu auch noch ständig verändern können, lenken uns nur dann nicht ab, d.h. sie überfordern unsere Fähigkeit zur Verarbeitung des optischen Inputs nur dann nicht, wenn wir diese enorme Farbkomplexität reduzieren. Genauer: Nicht »wir« reduzieren sie, dann wäre ja unsere dauernde Aktivität gefordert und nichts wäre gewonnen. Dieser Prozess der Reduktion läuft vielmehr automatisch ab, aktiv brauchen wir gar nichts zu tun. Unser Gehirn übernimmt das für uns, ohne unser Zutun und völlig unbemerkt. Was aber zugleich heißt: ohne dass wir uns dagegen wehren könnten.

Diese Machtlosigkeit wird uns nur selten bewusst, zum Beispiel eben in der Konfrontation mit Adelsons Illusion. Dieses plötzliche Innewerden der eigenen Ohnmacht – dass da also eine autonome Instanz, von der Evolution in unser Gehirn programmiert, ein »fremder Beobachter in unserem Kopf«, darüber bestimmt was wir sehen – ist der Grund für das Erschrecken, mit dem wir auf die Schachbrett-Illusion reagieren. Der »evolutionäre Benefit« für uns liegt aber auch hier auf der Hand: Statt der beständig mit dem Licht wechselnden und Formen auflösenden Farbverläufe auf dem tatsächlichen Schachbrett nehmen wir ein konstantes und vertrautes Muster wahr, das für uns Sinn macht. Wir können das Brett zum Schachspielen gebrauchen, weil unser Gehirn vom Brett einen visuellen Eindruck konstruiert, der das Farbchaos auf eine überschaubare Palette vereinfacht und zugleich zu einem klaren und konstanten Muster ordnet.

Die metakognitive Einsicht, zu der uns Adelsons Illusion verhilft, ist also die folgende: Sehen ist nicht »Fotografieren der Realität«. Sehen ist vielmehr stets Modellierung der Realität. Diese Modellierung läuft ab als weitgehend automatischer und unbewusster Prozess der Sinnkonstruktion auf dem visuellen Input – mit den zwei Hauptstrategien: Reduktion von Komplexität und Strukturierung.